„Nach meiner Auswechslung war ich stinkesauer“

Uli Stielike im Dress der Königlichen
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Am 4.6.1980 kam es in Madrid zu einem kuriosen Aufeinandertreffen, das in die Geschichtsbücher des europäischen Fußballs einging: Real Madrid traf im Finale der Copa del Rey auf die eigene zweite Mannschaft, Real Madrid Castilla. Für das Starensemble in der Anfangsformation: Uli Stielike.

Herr Stielike, erste Frage in diesen Zeiten: Wie geht es Ihnen gesundheitlich? Sind Sie oder Ihre Familie direkt vom Coronavirus betroffen gewesen?
Da ein Familienmitglied positiv getestet wurde, mussten wir Ende März mit sieben Personen für 14 Tage in häusliche Quarantäne. Keiner hatte jedoch irgendwelche Symptome und alle sechs übrigen Personen wurden negativ getestet.

Sie stehen momentan bei Tianjin Teda in China unter Vertrag. Wie ist die Situation vor Ort?
Die Lage vor Ort normalisiert sich jeden Tag mehr, das Team geht einem geregelten Trainingsrhythmus nach. Die Einheiten werden momentan von meinen Co-Trainern, mit denen ich in täglichem Austausch stehe, geleitet.

Sie befinden sich also momentan in Deutschland?
Richtig, ich war auch die ganze Zeit über hier in Bochum und warte nun schon seit Wochen auf eine Einreisegenehmigung.

Heute vor genau 40 Jahren standen Sie im Finale der Copa del Rey mit Real Madrid. So ein Tag ist zweifelsohne immer etwas Besonderes, aber in diesem Falle handelt es sich um ein historisches Ereignis im spanischen Fußball: Sie trafen auf Ihre eigene zweite Mannschaft, Real Madrid Castilla. Wie haben Sie den Tag in Erinnerung?
Für mich persönlich war der Tag sehr kurios: Ich bin nämlich am gleichen Tag aus München angereist. Dort fand am 3. Juni das Abschiedsspiel für Sepp Maier zwischen dem FC Bayern und der deutschen Nationalmannschaft statt. Real Madrid ist dem Wunsch seitens des DFB für meine Abstellung nachgekommen. Im Finale wurde ich dann nach dem 4:0 in der 63. Minute ausgewechselt.

Die Castilla hatte sich in den Runden bis zum Finale sensationell gegen vier Erstligisten durchgesetzt, und das im Europapokal-Modus, d. h. mit Hin- und Rückspiel. Wie schätzen Sie die Leistung von damals ein?
Das war eine grandiose Leistung, denn immerhin warfen sie mit Athletic Bilbao, Real Sociedad und Sporting Gijón drei Top-Vereine der damaligen Zeit aus dem Wettbewerb.

Wie war die Beziehung zur Castilla? Wurde gelegentlich gemeinsam trainiert, ist man sich täglich begegnet?
Gemeinsame Trainingseinheiten gab es keine, aber natürlich ist man sich des Öfteren über den Weg gelaufen oder hat sich Spiele von Castilla angeschaut.

Gibt es Spieler aus der „Zweiten“, mit denen Sie privat zu tun hatten?
Etliche der Jungs fanden ja später den Weg zu uns in die erste Mannschaft. Mit einem davon, Ricardo Gallego, habe ich nach wie vor Kontakt. Auch er arbeitet in China, in der Jugendakademie von Guangzhou Evergrande, die eine Kooperation mit Real Madrid pflegt.

Für Profisportler ist es bekanntlich wichtig, vor Spielen eine gewisse Spannung aufzubauen. War das für Sie als „erste Mannschaft“ möglich? Man spielte im eigenen Stadion gegen den eigenen Nachwuchs. Da kann sicher schnell eine Art „Trainingsspielmentalität“ aufkommen.
Richtig ist, dass man sich in der Führungsetage auf dieses Spiel bezogen seiner Sache offensichtlich recht sicher war – ansonsten hätte mich der Club nie und nimmer zur Nationalmannschaft reisen lassen. Als Spieler musst du allerdings eine leistungsfördernde Spannung aufbauen, denn die Zuschauer erwarteten einen Sieg des klaren Favoriten.

Den offiziellen Daten zufolge verfolgten das Finale lediglich 65.000 Zuschauer im Bernabéu. Woran lag der geringe Zuschauerzuspruch und denken Sie, dass das Stadion ausverkauft gewesen wäre, wenn der Gegner ein anderer gewesen wäre?
Sicherlich hätte ein Team von denen, die Castilla aus dem Weg räumte, als Finalgegner für ein ausverkauftes Stadion gesorgt. Allerdings wäre dann wohl auch nicht im Bernabéu gespielt worden, da die Pokalendspiele damals keinen festen Austragungsort hatten.

In den ersten 15 Minuten des Spiels hielt die Castilla gut mit und das Publikum feuerte mehrheitlich die zweite Mannschaft an. Wie haben Sie das in Erinnerung?
Dem vermeintlich Schwächeren der „Familie“ galten zunächst einmal die Sympathien, bis der Favorit das Zepter in die Hand nahm. Und dass ein Team, das im Pokalendspiel steht, gewisse Qualitäten haben muss und in 90 Minuten auch gute Momente hat, dürfte klar sein.

Im Endeffekt war das Spiel schnell entschieden. Zur Halbzeit stand es 2:0 für die erste Mannschaft und kurz vor Ihrer Auswechslung fiel das 4:0. Am Ende stand ein 6:1 zu Buche. Hatten Sie während des Spiels überhaupt zu irgendeinem Zeitpunkt das Gefühl, dass für Sie etwas schiefgehen könnte?
Als Spieler entwickelst du relativ schnell ein Gefühl für die Situation, und das war bei mir vom Anpfiff an positiv, was das Gesamte anging. Für mich stellte sich nur die Frage, wie es bei mir mit meiner Substanz aussah, immerhin war es wie erwähnt das zweite Spiel innerhalb von 24 Stunden, und das in zwei Ländern!

Der Ehrentreffer der Castilla zum zwischenzeitlichen 4:1 ist wahrscheinlich das am meisten bejubelte Gegentor in der Geschichte des Bernabéu. Wie haben Sie das erlebt?
Ich war nach meiner Auswechslung stinkesauer. Das Spiel war entschieden, ich fühlte mich wohl und hätte liebend gerne das letzte Spiel der Saison zu Ende gespielt. Deshalb verfolgte ich das weitere Spielgeschehen auch nur noch trotzig von der Bank.

War Ihnen nach dem Spiel dann überhaupt zum Feiern zumute? Den Meistertitel hatten Sie ja zuvor auch bereits errungen, da bot sich ja eine größere Sause an. Durften die unterlegenen Jungs auch dabei sein?
Daran habe ich beim besten Willen keine Erinnerung mehr. Da es damals jedoch noch nicht Usus war, bei jedem Erfolg zum Cibeles-Brunnen zu fahren, gehe ich davon aus, dass wir in irgendeiner Diskothek ausgekommen sind.

Die unglaubliche Leistung der Castilla von damals wird einem erst klar, wenn man sich vor Augen führt, dass in Spanien seitdem, also seit exakt 40 Jahren, kein Zweitligist mehr im Pokalfinale stand. War das für Sie damals überraschend oder wussten Sie um die Stärke der Castilla?
Castilla war der Nährboden für viele, spätere wertvolle Spieler der ersten Mannschaft, dennoch bleibt der Einzug ins Pokalfinale eine einmalige Geschichte, die sich wohl auch nicht mehr wiederholen wird. Denn die eigentliche Größe der Leistung liegt nämlich darin, dass Castilla alle Hürden in zwei Spielen genommen hat. Jeder Erstligist hatte also die Möglichkeit eine vermeintlich schwächere Leistung zu korrigieren und hat es nicht geschafft.

Vor der laufenden Saison wurde der Pokalmodus dahingehend geändert, dass nur noch im Halbfinale ein Hin- und Rückspiel stattfindet und alle anderen Runden in einem einzigen Spiel entschieden werden, bei dem der klassentiefere Heimrecht genießt. Prompt stand mit dem CD Mirandés ein Zweitligist im Halbfinale, scheiterte aber an Real Sociedad. Wie stehen Sie zu der Regeländerung des spanischen Verbands?
Wenn du eine Liga mit 20 Teams ausrichtest, dann ist die Belastung der Spieler 
vor allem derer, die noch in europäischen Wettbewerben antreten – enorm. Daher war es längst an der Zeit für eine Reduzierung des Spielkalenders.

Wie sehen Ihre persönlichen Zukunftspläne aus? Sie stehen in China bis Saisonende unter Vertrag, das dürfte sich naturgemäß jetzt noch etwas hinziehen.
Ich würde gerne meinen Vertrag erfüllen, da ich mich den Spielern gegenüber verpflichtet fühle, trotz der momentanen Situation. Eigentlich sollte es meine letzte Saison als Cheftrainer im Profifußball sein. Nun bleibt aber erst einmal abzuwarten wann und wie es überhaupt weitergeht!

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