Die Geister, die ich rief...



Die Wortschöpfung "Geisterspiele" sagt für sich genommen schon ziemlich viel darüber aus, was uns da in den kommenden Monaten im Fernsehen blühen wird. 22 bemitleidenswerte Profisportler werden über den Platz geistern und nach 90 Minuten vor ein paar Kameraleuten und Funktionären relativ entgeistert wieder in den Katakomben verschwinden. Gruselig.
Da helfen auch die paar tausend Pappkameraden nicht, die das Fanprojekt von Borussia Mönchengladbach in einer lieb gemeinten Aktion aufstellen will. Im Gegenteil. Wäre ich Profi, würde ich mir beim unvermeidbaren Blick auf die Ränge immer noch lieber eine Sitzschale anschauen als das leblose Pappkonterfei eines Dauerkartenbesitzers. Fehlen eigentlich nur noch Fangesänge aus der Konserve über die Stadionlautsprecher. Grusel-Level: Alfred Hitchcock meets Wes Craven.

Mein (ökonomischer) Verstand sagt mir, dass Geisterspiele unvermeidbar sind. Die Gelder müssen fließen, die Maschinerie muss weiter funktionieren. Tausende Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.

Mein (Fan-)Herz sagt mir: Bitte keine Geisterspiele! Sie verzerren den Wettbewerb und werden den Sport monatelang in ein Licht rücken, das er so nicht verdient: Trist, emotionslos, ohne jede Leidenschaft. Der Imageschaden könnte enorm sein. Der Schaden für die brennende Fanseele noch größer.

Der Präsident des 1. FC Köln gab diese Woche laut der SZ bei einer Veranstaltung zu Protokoll, er gehe nicht davon aus, dass dieses Jahr noch vor Publikum gespielt werde. Wirklich vorhersagen kann das natürlich niemand. Wenn ich mir das momentane Panorama jedoch anschaue, lehnt er sich da aber wohl nicht zu weit aus dem Fenster. Wir sprächen (noch klammere ich mich an den Konjunktiv!) hier also im deutschen Männerfußball über neun Spieltage aus der Saison 2019/2020, zwei Pokalhalbfinals, ein Pokalfinale sowie 17 Spielrunden der Saison 2020/2021 und die ersten Pokalrunden der kommenden Saison. Welchen Wert hätten zwei Spielzeiten, die zu einem Viertel bzw. zur Hälfte hinter verschlossenen Türen ausgespielt werden? Mal ganz ehrlich, diese Meisterschaft und diesen DFB-Pokal will doch niemand auf diese Weise gewinnen und seine Ehrenrunde vor leeren Sitzschalen respektive Pappkameraden drehen.

Kommen wir aus der Nummer noch raus? Und wenn ja, wie? Diese Frage stellen sich momentan ziemlich viele Akteure in der Sportwelt. Ich meine: Krisenzeiten erfordern radikal neue Denkweisen!

Eine Utopie aus Fan-Sicht, völlig aus der Luft gegriffen, ohne jegliche wirtschaftliche Basis, wider jeden gesunden Menschenverstand, aber dafür mit doppelt so viel Liebe selbst ausgedacht:

1. Laufende Bundesliga-Saison für beendet erklären
Die ersten vier nach den 25 durchgeführten Spieltagen spielen Champions League, die nächsten beiden Europa-League, aber erst in der Saison 2021/2022 (mehr dazu unten). Ein Meister wird nicht gekürt und damit dem FC Bayern die Peinlichkeit erspart, die Schale vor leeren Rängen in Empfang zu nehmen. Keiner steigt ab.
Aus Liga 2 und 3 steigt niemand ab und niemand auf.

2. Pokalwettbewerb der Saison 2020/2021 absagen
Stattdessen im April/Mai 2021 nur noch die Halbfinals und das Finale der Saison 2019/2020 ausspielen. So darf der 1. FC Saarbrücken seinen Pokaltriumph vor 80.000 im ausverkauften Berliner Olympiastadion feiern, wie es sich gebührt.

3. Teilnahme an europäischen Wettbewerben der Saison 2020/2021 absagen
Wir machen ein Jahr CL-/EL-Detox. Tut uns mal ganz gut. Ab der Saison 2021/2022 starten die deutschen Teams wieder voll durch. Vor Zuschauern und mit einem guten Jahr Planungssicherheit im Voraus.

4. Bundesliga-Saison 2020/2021 erst im Januar 2021 starten
Die DFL und der DFB sollten sich für die Saison 2020/2021 zusammenschließen und den aktuellen Trends folgen: Weg von der Globalisierung, hin zu einer neuen Regionalität. Weg vom Wettbewerbsgedanken, hin zu einer neuen Solidarität. Mit einer Hommage an die Oberligen vor der Gründung der Bundesliga.
Die Saison 2020/2021 beginnt erst im Januar 2021, dann aber vor Publikum. Alle Vereine der 1., 2. und 3. Liga werden in einen Topf geworfen und in 8 Gruppen zu je 7 Teams nach strikt regionalen Kriterien unterteilt. Preußen Münster gegen Borussia Dortmund. Eintracht Braunschweig gegen Hannover 96. Sechzig gegen Bayern (1. Mannschaft). Diese Mini-Ligen spielen die ersten Monate des Jahres 2021 und so werden – ganz im Sinne des Schutzes vor der erneuten Ausbreitung der Corona-Epidemie – lange Anfahrten verhindert. Aus Kostengründen wird auf VAR und sonstigen technischen Schnickschnack verzichtet. Drei Schiedsrichter, ein vierter Offizieller.
Die Fernsehgelder, die Sky, DAZN und Co. für die Übertragung hinblättern, werden in einen Solidarfonds eingezahlt.
Die 8 Erstplatzierten der "Regionalligen" spielen in einer KO-Runde die vier Teilnehmer aus, die im  Mai 2021 zum großen Playoff-Finale (Final Four) an einem Wochenende antreten und den Deutschen Meister ausspielen.
Ab der Saison 2021/2022 kehren wir in allen Wettbewerben wieder zum normalen Ablauf zurück.

Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld? Wie sollen die Vereine bis Ende des Jahres überleben, so ganz ohne Einnahmen?

1. Gehälter kürzen
Mitarbeitergehälter über 10 Mio. Euro p. a. werden um 90 % gekürzt, zwischen 5 und 10 Millionen um 70 %, usw. Jahresgehälter unterhalb von 100.000 € sind von den Kürzungen ausgenommen. Das Geld fließt in einen gemeinsamen Solidarfonds, der allen Vereinen zugutekommt.

2. Fernsehgelder aus der "Solidaritätsrunde im Regionalligaformat"
Fließen zu 100 % in den Solidarfonds, zusammen mit den Geldern aus Gehaltskürzungen.

3. Kapitalbedarf aller Vereine, Verbände und sonstigen Beteiligten bestimmen
Wie viel Geld braucht Bayer Leverkusen, um bis Sommer 2021 ohne Spielbetrieb auszukommen, um eine schwarze Null zu schreiben? Wie viel braucht der FSV Zwickau, wie viel die DFL, wie viel DAZN?


4. Finanzierungslücke schließen
Die wahrscheinlich noch beträchtliche Finanzierungslücke durch Kredite schließen, die bei verschiedenen deutschen Banken aufgenommen werden. Die Kredite werden ab der Saison 2021/2022 über einen Zeitraum von 30 Jahren von den Vereinen zurückgezahlt. Die Rückzahlung erfolgt solidarisch, d. h. alle 56 Vereine werden beteiligt, analog zum Verteilungsschlüssel der TV-Gelder: Wer viel Kohle einnimmt, muss viel zur Begleichung des Kredits beitragen.

Unmöglich? Vielleicht. Andererseits: Was hätte ich geantwortet, wenn mir im Januar jemand gesagt hätte, dass mich im April die Polizei auf der Straße anhält, um zu prüfen, ob ich auch tatsächlich den Müll rausbringe und mich nicht "illegal" auf der Straße aufhalte? I rest my case.

Copyright Foto: MaBoSport via imago images



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