Movida madridista

Erfolgself: Real Madrids "Zweite"
Copyright: Cristóbal Machín


Am 4. Juni 1980 trifft Real Madrid im Pokalfinale auf die eigene zweite Mannschaft – und die zieht in den Europapokal ein

Was für den deutschen Fußball der 12. Juni 1993, an dem die Hertha-Amateure Bayer Leverkusen im Pokalfinale mit 0:1 unterlagen, ist für den spanischen Fußball der 4. Juni 1980.
An jenem Tag stand eine „Zweite“ im Finale der Copa del Rey. Wie die Amateure der Hertha durfte auch jenes Team zuhause antreten, und zwar in keiner geringeren Arena als dem ehrwürdigen Estadio Santiago Bernabéu, denn es war die Castilla, die zweite Mannschaft von Real Madrid, die den Sprung ins Endspiel geschafft hatte. Die Finalpaarung war allerdings um einiges brisanter als beim deutschen Endspiel 13 Jahre später: Der Gegner der Castilla hieß Real Madrid.


Cristóbal Machín Fernández de la Puente ist 62 Jahre alt und ein vielbeschäftigter Mann. Der Ökonom ist derzeit auf den Sportanlagen des spanischen Automobilclubs RACE in Madrid tätig. Es laufen diverse Vorbereitungen für den Tag, an dem die Corona-bedingten Ausgangssperren endlich gelockert werden und sich die Mitglieder wieder auf dem Gelände beim Golfen, Reiten oder Tennisspielen entspannen können. Cristóbal kümmert sich um die Entwicklung und Einführung neuer Aktivitäten. Für ihn die perfekte Verbindung zweier Konstanten in seinem Leben: Sport und die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen. Nebenbei berät er verschiedene Unternehmen aus anderen Bereichen. Trotz seines vollen Terminkalenders nimmt sich Cristóbal, genannt Balín, die Zeit, mir einige Fragen zum 4. Juni 1980 zu beantworten, einem Tag, den er als „bittersüß“ bezeichnet. Es ist ein ganz besonderer Tag, für ihn ebenso wie für seinen Bruder Francisco, genannt Paco.

Balín und Paco wachsen in Madrid auf und besuchen dort gemeinsam eine katholische Schule. Beide lieben es zu kicken. Zusätzlich zu ihrer Begeisterung für das runde Leder bringen sie sehr viel Talent mit. Als der Trainer ihrer Schulmannschaft zum CD Numancia wechselt, traut er dem Brüderpaar den Sprung in die höchste regionale Spielklasse bei den Senioren zu und nimmt beide mit ins gut 200 km entfernte Soria. Von der Hauptstadt in die Provinz. Die Ruhe nutzen sie aus, um sich voll auf den Fußball zu fokussieren. In der Saison 1977/78 schießen sie ihren neuen Verein praktisch im Alleingang in die vierte Liga. Die Bilanz des brüderlichen Sturmduos: Balín erzielt 29 Tore, Paco kommt auf sagenhafte 60 Treffer, gleich in der ersten Saison. In der Folgenden hält Numancia als Aufsteiger ohne große Anstrengung die Klasse und schließt als Tabellenfünfter ab. Das alles bleibt natürlich in der Heimat nicht verborgen. Im Sommer 1979 wechseln die Brüder gemeinsam zur Castilla, der zweiten Mannschaft von Real Madrid, und kehren somit zurück in Ihre Heimatstadt.

Die Reservemannschaften von Erstligaclubs sind in Spanien bis heute in der zweiten Liga spielberechtigt. Die Castilla tritt in der Saison 1979/1980, dem ersten Jahr von Paco und Balín im Profifußball, ebenfalls in der Segunda División an. Wie groß war damals der Sprung von der vierten in die zweite Liga für einen jungen Spieler? „Der Unterschied war natürlich deutlich spürbar“, sagt Balín. „Aber nicht so sehr auf körperlicher Ebene, sondern eher taktisch. Für einen Spielertypen wie mich – schnell und beweglich – hatte die zweite Liga eindeutig Vorteile. Du bekommst mehr Räume und kannst deine Schnelligkeit ausspielen. Reine Strafraumstürmer haben es da schwieriger.“ Balín und Paco sind in fast jedem Spiel dabei und bringen es in der Liga am Ende der Spielzeit gemeinsam auf 55 Einsätze und 13 Tore. Eine starke Bilanz für ihre Premierensaison, die die Castilla auf einem guten siebten Tabellenrang abschließt. Die beiden gehören zu den wenigen im Team, die neben dem Profifußball noch studieren: „Das war harte Arbeit. Mein Vater erinnerte uns immer daran, dass es mit dem Fußball einmal vorbei ist und es ein Leben danach gibt, ein Leben ohne Fußball, auf das man sich vorbereiten muss. Das hat mir immer sehr geholfen, auch wenn es manchmal wirklich schwierig war, Zeit zum Lernen zu finden.“

Das Highlight der Saison ist jedoch nicht die für die beiden neue Liga, sondern der Pokalwettbewerb. Die Castilla mit einem Durchschnittsalter von knapp über 21 Jahren tritt so auf, wie man es sich von einem Nachwuchsteam erhofft: völlig unbekümmert und ohne Angst vor großen Namen. In der vierten Runde zieht mit Hércules der erste Erstligist den Kürzeren. Die 4:1-Niederlage in Alicante biegt man im Rückspiel mit einem 4:0 um. Ein erster Vorgeschmack darauf, dass sich die Jungs der cantera von Real nicht so leicht geschlagen geben. Im Achtelfinale wartet jedoch eine scheinbar unüberwindbare Hürde: Der damalige Rekordpokalsieger von Athletic Bilbao. Das Hinspiel in Madrid endet mit einem torlosen Unentschieden. „Keiner gab auch nur einen Pfifferling auf unser Weiterkommen“, erinnert sich Balín. „Das Rückspiel war extrem hart geführt, Athletic zog eine Art Dauerpressing auf. Unser Trainer setzte deshalb auf Konter. Jedes Mal, wenn wir den Ball bekamen, kam es zu gefährlichen Situationen für Bilbao. Per Konter haben wir dann innerhalb kurzer Zeit zwei Mal getroffen. Das Spiel gewannen wir 2:1. Als wir in die Kabinen verschwinden wollten, forderten uns die gegnerischen Fans in San Mamés auf, wieder herauszukommen, und feierten uns. Das war unbeschreiblich. Ein perfektes Spiel, auch von mir persönlich.“ Das sah auch der Österreicher Helmut Senekowitsch, damals Trainer bei Athletic Bilbao, so: „Er meinte, wenn ich Baske wäre, würde er sofort versuchen, mich zu verpflichten“, lacht Balín.

Das nächste Opfer im Viertelfinale ist kein geringeres als Real Sociedad San Sebastián. Auch die damalige Spitzenmannschaft, die in der Liga bis zum Schluss mit Real Madrid um den Titel kämpft und in der vorherigen Pokalrunde den FC Barcelona ausgeschaltet hat, findet kein Mittel gegen die junge Truppe um Balín und Paco. Die 2:1-Auswärtsniederlage im Hinspiel biegt die Castilla zuhause mit einem 2:0 um. Während in den anschließenden Halbfinals die erste Mannschaft von Real das Elfmeterschießen benötigt, um den Lokalrivalen Atlético auszuschalten, gelingt der Castilla erneut eine remontada gegen Sporting Gijón, das die Primera División als Dritter abschließen wird: 4:1 heißt es nach einer 2:0-Hinspielniederlage. Das Finale Klein gegen Groß, erste gegen zweite Mannschaft, ist perfekt, und ganz Spanien staunt.

Das Land befindet sich im Juni 1980 in den Wirren der transición, des Übergangs von der Franco-Diktatur in eine Demokratie. Die politische Instabilität ist allerorts greifbar, das Militär auch fast fünf Jahre nach Francos Tod weiter mächtig. Dennoch ist der Optimismus in der Bevölkerung groß, sie ist voller Tatendrang nach über 40 Jahren der Unterdrückung und Verbote. Die neue Freiheit und Kreativität findet in den Clubs, Kinos, Theatern und Ateliers der Hauptstadt ihren Ausdruck. Es ist eine Hochzeit der Jugendkultur. Der Einfluss der Bewegung movida madrileña auf das spanische Kulturleben ist bis heute spürbar. Für die meisten ist es der Aufbruch in eine neue, bessere Zeit. Schließlich kann noch niemand ahnen, dass nur acht Monate später die junge Demokratie vor dem Abgrund stehen wird, als das Militär das Parlament besetzt, der Staatsstreich aber an der Hartnäckigkeit des jungen Monarchen und Staatsoberhauptes Juan Carlos I. scheitert. Dass sich ein unbekümmert aufspielendes Nachwuchsteam bis ins Finale des Wettbewerbs, der im vierten Jahr nun wieder den Namen des Königs trägt und nicht mehr den des Generalísimo, vorgekämpft hat und gegen die Arrivierten, die Stars, antritt, passt wie gedruckt in die allgemeine Aufbruchsstimmung. Das sieht nicht nur der antimadridismo so, der natürlich zur Castilla hält, in der Hoffnung, dass die Startruppe um Stielike und del Bosque sich im Finale blamiert und bloß nicht das Double holt. Auch die Anhänger von Real Madrid wollen ihren Nachwuchs siegen sehen.

„Die ersten Minuten hat das Publikum im Bernabéu ganz klar uns angefeuert. Wir haben auch richtig stark mitgehalten“, erinnert sich Balín. Trotz des Klassenunterschieds stehen sich natürlich keine Unbekannten als Gegner gegenüber: „Wir von der Castilla hatten ein sehr gutes Verhältnis zu unserer ersten Mannschaft“, so Balín. „Zwar trainierten wir nicht regelmäßig gemeinsam, aber hin und wieder gab es natürlich Trainingsspielchen. Der damalige Trainer von Real, Vujadin Boskov, lud oft Spieler von uns zum Training ein, die er aus der Nähe verfolgen wollte. Paco und ich trainierten recht häufig mit.“ Paco soll sogar die Vorbereitung auf die kommende Saison mit der ersten Mannschaft absolvieren und steht auf dem Sprung in den Kader des Starensembles. Daraus wird allerdings nichts: Er verletzt sich in der ersten Hälfte des Pokalfinals und muss in der Halbzeit in der Kabine bleiben. Die Verletzung ist so gravierend, dass er die Vorbereitung nicht mitmachen kann – einer der Gründe dafür, dass Balín den 4. Juni 1980 als „bittersüß“ bezeichnet. Paco wird es nie in die erste Mannschaft von Real schaffen, spielt jedoch später einige Jahre in der Primera División bei anderen Vereinen. Balín selbst wird erst in der 73. Minute eingewechselt, da ist das Spiel bereits entschieden: Ein 4:0 haben sich die Stars bis zu diesem Zeitpunkt herausgeschossen. „Wir haben unsere Leistung aus den vorherigen Runden einfach nicht abrufen können. Unsere Nervosität und der Druck, die Leute begeistern zu wollen, haben dazu geführt, dass wir ab der 15. Minute nicht gut gespielt haben. Irgendwie wollte an diesem Tag bei uns jeder für sich alles geben, aber nicht als Team. Das nutzt natürlich eine Mannschaft wie Real Madrid aus.“ Die Castilla ist an diesem Tag 75 Minuten lang chancenlos. Auch Balín macht seine „bittersüße“ Erfahrung: „Ich hatte alle Pokalspiele bis dahin absolviert, aber ausgerechnet im letzten Punktspiel vor dem Finale bekomme ich einen Tritt ins Gesicht und breche mir die Nasenscheidewand. Eigentlich hätte ich gar nicht spielen können, aber der Trainer hat mich trotzdem auf die Bank gesetzt und mir die letzten 20 Minuten geschenkt. Die Stimmung im Stadion war unglaublich, eine einzige fiesta. Im Laufe des Spiels schwenkte das Publikum um und feierte die erste Mannschaft, ging aber sehr respektvoll mit uns um.“ So wird der Ehrentreffer der Castilla zum vielleicht meistbejubelten gegnerischen Tor der Geschichte des Bernabéu.

Hat zur allgemeinen Nervosität in den Reihen der Castilla und damit zu der letztlich deutlichen 6:1-Niederlage vielleicht auch beigetragen, dass die gesamte Führungsriege des Vereins um Präsident Luis de Carlos den Kabinen einen Besuch abstattet, um kurz vor dem Spiel über Prämien zu sprechen? Für Balín keine Ausrede: „Alle, aber besonders unser Präsident, sagten uns, wir sollen einfach rausgehen und spielen wie immer. Freundlicherweise nannte er uns sogar noch die Siegprämien. Die fiel logischerweise für die erste Mannschaft sehr viel höher aus, aber unsere war auch keineswegs zu verachten. Wir sollten das Spiel genießen, sauber spielen und versuchen zu gewinnen.“ Für den Verein ist es die Krönung einer erfolgreichen Saison und eine Win-Win-Situation: Der Pokal bleibt in jedem Falle bei Real und die spanische Meisterschaft hat man bereits gewonnen. Aber es gibt noch einen besonderen Bonus: Da die erste Mannschaft in der kommenden Saison im Europapokal der Landesmeister antritt, qualifiziert sich die Castilla als Verlierer des Pokalfinals für den Europapokal der Pokalsieger.

Und so wartet in der ersten Runde des Pokalsieger-Wettbewerbs der Saison 1980/81 der englische FA-Cup-Sieger West Ham United. „Das ist natürlich ein Spiel, das wir nie vergessen werden“, sagt Balín. „Im Hinspiel zuhause war das Bernabéu prall gefüllt. West Ham ging schnell in Führung, das gab uns einen Adrenalinschub und wir haben in wenigen Minuten drei Tore erzielt.“ Das 3:1 ist eine gute Ausgangsposition für das Rückspiel in London. Dieses soll jedoch unter besonderen Bedingungen stattfinden: Anhänger von West Ham sorgen in Madrid für gravierende Ausschreitungen außerhalb und innerhalb des Stadions. Inmitten hässlicher Szenen urinieren einige Hooligans aus London von den oberen Rängen auf die spanischen Zuschauer unter ihnen. Die UEFA greift durch und lässt für das Rückspiel keine Zuschauer zu. Das Spiel ist in England bis heute als ghost match bekannt. Vor der Geisterkulisse findet die Castilla nicht ins Spiel und gerät schnell mit 0:3 ins Hintertreffen. Mit einem 1:3 nach 90 Minuten rettet man sich zwar in die Verlängerung, unterliegt dort aber mit 1:5 und scheidet aus dem Wettbewerb aus.

Balín und Paco wechseln einige Spielzeiten später in die erste Liga, Balín zu Osasuna und Paco zu Racing Santander und später zu Betis Sevilla. Eine von Balíns letzten Karrierestationen ist die UD Salamanca, mit der er innerhalb von zwei Jahren von der ersten in die dritte Liga abrutscht. Ein Grund für sein frühes Karriereende mit nur 28 Jahren? „Nein, der einzige Grund dafür waren meine Verletzungen. Als ich bei der Castilla spielte, verletzte ich mich am Meniskus. Heutzutage ist das eine Lappalie, aber damals war das gravierend. Ich hatte mich gut davon erholt, aber in einem Freundschaftsspiel brach die Verletzung wieder auf. Ich war verheiratet, meine Frau erwartete unsere Tochter und durch mein Studium standen mir Jobmöglichkeiten außerhalb des Fußballs offen. Ich muss zugeben, dass das die schwerste Entscheidung meines Lebens war, weil ich sehr gern weitergespielt hätte, aber ich musste konsequent sein.“ Paco spielt noch einige Jahre länger in der ersten Liga und bleibt weitgehend von Verletzungen verschont. Heute hat er nichts mehr mit dem Fußballgeschäft zu tun und arbeitet als Informatiker. Auch Balín ist nicht mehr im Geschäft, pflegt aber hervorragende Kontakte zu Real Madrid: „Ich habe immer einen guten Draht zu allen im Club gehabt, weil ich meine Kontakte pflege und es genieße, viele Freunde zu haben. Heute habe ich am meisten Kontakt mit Emilio Butragueño, der ein guter Freund und eine außergewöhnliche Persönlichkeit ist.“

Das Fußballerleben der beiden liegt heute bereits viele Jahre zurück, aber aus der bittersüßen Brüderkarriere bleiben einige Rekorde, die bis heute Bestand haben. Seit jenem Finale im Juni 1980 hat es in Spanien kein Zweitligist mehr geschafft, ins Endspiel der Copa del Rey einzuziehen. Selbstverständlich war auch keine zweite Mannschaft mehr in einem europäischen Wettbewerb vertreten. Und Paco und Balín dürften zu den wenigen Brüdern gehören, die im selben Europapokalspiel beide ein Tor erzielten: „Im Hinspiel gegen West Ham habe ich das zweite Tor gemacht. Das erste, das die Aufholjagd einläutete, schoss Paco – nach meiner Vorarbeit.“

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